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Ahnengalerie


Herbert

 
 

Ein Tag aus meinem Leben

Der Wecker klingelt, wie an jedem Werktag. Hah! Draußen ist es kalt geworden und im Bett so schön warm. Ach, ja! Heute ist Freitag, der 22. Dezember 1961, also der Tag, den die „SZ“ für würdig erachtete, als ein Tag aus meinem Leben festgehalten zu werden. Ein Freitag! Ausgerechnet ein Freitag! Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber …! Hah, wir werden sehen!

Vom Himmel wirbeln Flocken. Offensichtlich werden wir diesmal doch ein weißes Weihnachten erleben. Das wäre schön. Hoppla! Ich stolpere über einen Stein: „Rechts – pechts!“ Das kann ja heiter werden!

Wider Erwarten ist die Straßenbahn pünktlich. Meist hat man mit ihr schon am Morgen den ersten Ärger und am Abend den letzten. Seit 12 Jahren wünsche ich mir, menschenwürdig nach und von meiner Arbeitsstelle befördert zu werden. Jeden Tag ist es das gleiche. Während des Berufsverkehrs sind die Wagen überfüllt, Knöpfe springen von der Kleidung, Seidenstrümpfe gehen flöten. Stoßen, drängen, schimpfen! Das ist nun der Anfang und das Ende eines jeden Arbeitstages. Da sagte vor ein paar Tagen jemand, bissel derb vielleicht: „Wenn man Schweine so aufeinandergestapelt zum Schlachthof beförderte, wie uns zur Arbeit, dann kämen die Hälfte der Bostenviecher schon krepiert am Schlachthof an!“ Sicher, ich hoffe es bestimmt, wird auch dieser große, stimmungsmordende Kummer der straßenbahnfahrenden Werktätigen verschwinden. Zunächst ist es wohl an uns, durch größere Rücksichtnahme aufeinander zur Besserung der Sachlage beizutragen.

Am Platz der Einheit (heute Albertplatz) muss ich diesmal nur 12 Minuten auf meine Bahn zum Industriegelände warten. Ich komme pünktlich an. Nun, es würde mich auch ärgern zu spät zu kommen. Unpünktlichkeit passt nicht zu den Verpflichtungen im Produktionsaufgebot.

Mein Blick schweift gewohnheitsmäßig zum Giebel der großen Produktionshalle. Der rote Stern brennt noch! Ha, also! Es fällt uns diesmal nämlich gar nicht leicht, den Plan zu erfüllen! Das mit dem zu großen Löffel und der zu kleinen Schüssel ist uns nun wohl allen klar geworden: Erst die große Schüssel füllen, dann kann man nach Belieben löffeln! Nicht umgekehrt!

Am Arbeitsplatz gibt es erst mal eine angeregte Diskussion. Thema ist das Fernsehspiel „Der Ermordete greift ein“. Wer ist wohl der Täter? Die Meinungen gehen völlig auseinander. Ich bleibe dabei: Der Japaner ist es! Übrigens: man muss staunen, wie viel Werktätige schon einen Fernseher besitzen.

Nun aber an die Arbeit! Der Plan für den heutigen Arbeitsablauf ist schnell fertig. Lebhaft rollt er ab.

Ausnahmsweise erscheint der Produktionsleiter zur Begrüßung. Jeder bekommt einen Händedruck. Er strahlt heute. Man kann also einmal mehr folgern: der Plan wird erfüllt! Meist sehen wir den Produktionsleiter zur Begrüßung nicht. Diese erfolgt dann nach dem „Leistungsprinzip“. Der Produktionsleiter „behändelt“ nur die Abteilungsleiterin, diese die Gruppenleiter, diese wiederum die Sachbearbeiter usw.

Die Kollegin M. ist offenbar schon vorweihnachtlich gestimmt. Da will jemand etwas von ihr haben, was aber nicht da ist. Sie legt den schon abgehobenen Telefonhörer wieder auf und meint: „Gäm’se hähr, mach’mor geene große Briehe erscht. Sinn mor mal unbirrogradisch.“ (Übersetzung: Geben Sie her, machen wir keinen großen Aufwand damit. Sind wir mal ganz unbürokratisch.)

Gut so! Es geht nämlich auch so und leider ist der Bürokratismus immer noch eine tägliche Erscheinung, die korrigiert werden muss.

Seit ein paar Tagen riecht es so merkwürdig im Raum, wie nach altem Käse. Das geht mit der Zeit auf die Nerven. Wir suchen und finden! Nämlich im Schreibtisch des Gruppenleiters ein Glas mit Krautsalat. Seit Wochen hat es Heinz da vergraben. Er beeilt sich nun natürlich, das Übel zu beseitigen. „Ich habe auch schon geschnuppert“, meint er entschuldigend, „aber ich konnte nicht feststellen, was es war!“ Die Kollegin M. hierzu: „Da haste wohl gedacht, das wären deine Fiehse (Füße), die so riech’n?!“
Wenn gute Reden sie begleiten, dann geht die Arbeit munter fort! (Friedrich Schiller)

Gegen Mittag setzt ein herrliches Schneetreiben ein. Kollegin M. freut sich auch. Doch aus Erfahrung schöpfend, fügt sie dämpfend hinzu: „Wänn das so weider geht, dann genn‘ mir heide bis an den Blatz der Einhaid loofen!“ (Übersetzung: Wenn das so weiter geht, können wir heute bis zum Platz der Einheit laufen.) Sie hat aber zu Unrecht geunkt: Sie fuhr nämlich dennoch, die Straßenbahn. Sie bringt mich schließlich unter den bekannten Umständen wieder nach Plauen (ein Ortsteil von Dresden) zur Mutti und meinem Mädel.

Das ist seit dem 13.12. stolzer „Junger Pionier“ und ginge am liebsten mit dem blauen Halstuch schlafen. Ja, ja! Das Mädel steht am Anfang eines schöneren Lebens, als wir im gleichen Alter. Ich erinnere mich an das Jahr 1907, da war ich so alt, wie das Mädel jetzt (ich bin ein wenig alter Vati). Mein Vater bekam keine Arbeit in Sachsen. Er stand auf der „Schwarzen Liste“. Die Zukunft sah so entsprechend schwarz aus! Es ist immer gut, wenn man sich hin und wieder an die sogenannte „gute Zeit“ erinnert.
„Der Ofensetzer, der vor 6 Wochen kommen wollte und sich den Vorschuss holte, ist wieder nicht gekommen!“ beginnt Mutti aufzuzählen. „Die neuen Schuhe für Brigitte sind zweierlei in Machart und Größe! Beim Arzt habe ich wieder 2 ½ Stunden auf den Verband gewartet.“ Sie lässt sich, wie immer, leicht beruhigen, man muss nur ein wenig Verständnis für ihre Sorgen als Hausfrau aufbringen. Ha, und das tue ich wirklich.

Nach dem Abendessen schalte ich den Fernseher ein. Er macht uns viel Freude, nach anfänglichen Mucken. Es ist 19 Uhr geworden. Auf dem Bildschirm wird angekündigt: eine Sendung zum Produktionsaufgebot. Aber da staune ich nun wirklich! Bekannte Werkhallen, bekannte Gesichter und Maschinen erscheinen im Bild. Das uns allen so verhasste, aber im Betrieb so beliebte „Ringelspiel“: A wars, B wars nicht usw. rollt vor meinen Augen ab. Da werden Probleme unseres Betriebes aufgezeigt und wir wissen nichts davon. Ob man uns absichtlich von dieser Sendung nichts gesagt hatte? Da werde ich wohl morgen eine Lippe riskieren müssen. Schließlich dreht das Fernsehen die Aufnahmen in den Betrieben nicht, um irgendwem irgendwas zu zeigen. Ich denke vielmehr, dass die Sendung gedreht wurde, um zu einer lebhaften Diskussion anzuregen und die aufgezeigten Mängel abzustellen.

Im Fernsehen interessieren mich die politischen Kommentare zum Zeitgeschehen mit Karl Eduard v. Schnitzler besonders. Man wird da so schön zum Mitdenken angeregt. Den Mann bewundere ich, wie er so prächtig contra geben kann. Seine Frau dagegen, die ich auch gerne auf dem Bildschirm sehe, bedauere ich. Mit so einem Mann leben, der so treffend alles kommentiert…“

Aber schließlich wird es so schlimm nicht sein, denn daheim sind wir Männer ja alle sooo klein.

Und damit abgeschaltet. Der Tag ist vorbei. Im Traum erlebe ich den Erfolg meines langen Schreibens, über das ich mich sehr wundere, denn ich bin ansonsten wirklich mit chronischem Tintenekel belastet. Aber Spaß gemacht hat’s doch!

 

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