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Ahnengalerie


Mimi
 


Im Jahre 2000 hatte Mimi einen Schlaganfall, von dem sie sich zwar weitgehend erholte, aber nicht mehr in der Lage war, die Wohnung zu verlassen. Wir versorgten und beschäftigten sie so gut es ging. Ihr Essen konnte sie selbst wärmen,Tee kochen oder das Bad aufsuchen. Sie schmökerte noch gern ihre Arztromane oder machte Kreuzworträtsel. Aber sie hatte ihren Lebensmut verloren.

Irgendwann bemerkten wir, dass sie häufige Unterzuckerungen bekam. Einmal wollte sie sich Tee kochen, war aber in der Zwischenzeit bewusstlos geworden. Als wir zufällig bei ihr erschienen, war das Teewasser fast verkocht. Nicht vorzustellen, was noch hätte passieren können. Mit Traubenzucker und mit Hilfe vom Notarzt bekamen wir Mimi wieder auf die Beine.

Wir suchten also die Ursache für die Unterzuckerungen. Mimi spritzte neuerdings vor und nach dem Essen und war völlig überzeugt, dass sie das schon immer so gemacht hatte. Sie war uns recht böse, dass wir versuchten, deshalb einen Pflegedienst einzuschalten. Aber auch der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) war der Meinung, dass ein Pflegedienst nicht nötig sei, obwohl von der Hausärztin die Notwendigkeit bestätigt wurde. Es war ein langer Kampf, die Hilfe eines Pflegedienstes und die Pflegestufe 1 zu erhalten.

Am 6. Februar 2007 starb ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder. Das traf sie sehr schwer und sollte ihr und unser aller Leben völlig verändern.

Meine Kinder und ich fuhren am 10. Februar zu seiner Beerdigung nach Mecklenburg. Leider konnte Mimi aus gesundheitlichen Gründen nicht mit uns fahren. Als wir am Sonntag, dem 11. Februar auf der Heimreise waren, erhielten wir einen Anruf vom Pflegedienst, dass sie gestürzt sei, mit dem Kopf an die Heizung gekracht war und mit einem Beckenringbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Im Krankenhaus folgte ein Herzinfarkt und als sie zu verschiedenen Untersuchungen im Krankenhaus gefahren wurde, glaubte sie, sie sei schon gestorben. Sie meinte, die Ultraschalluntersuchung sei ihre letzte Ölung. Sie erlebte wirre Träume und konnte Traum und Realität nicht auseinander halten. Bei unseren Krankenbesuchen versuchten wir sie zu beruhigen. Die Ärzte sagten uns, dass eine Operation des Beckenbruchs nicht möglich wäre, Mutti würde die Narkose nicht überleben. Man hoffte, dass der Bruch selbständig heilen werde. Einen Herzschrittmacher lehnte Mutti ab. Nach drei Wochen konnte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Wir glaubten, in einer vierwöchigen Kurzzeitpflege in einem Pflegeheim könne sie sich halbwegs regenerieren. Gab es doch dort Physiotherapie und sonstige Unterhaltung für die Senioren. Wir brauchten die Zeit, um die Wohnung rollstuhlgerecht umzubauen.

Leider war die Betreuung in der Kurzzeitpflege nicht so, wie wir es erhofft hatten. Das Personal zwang Mutti, zu laufen und ging recht barsch mit ihr um. Mutti war so unglücklich und weinte viel. Nachher hatte sich herausgestellt, dass sie gar nicht in der Lage war zu laufen, denn die Knochen waren kein bisschen zusammengeheilt und sie hatte sehr große Schmerzen. Bereits im Krankenhaus wurden ihre Morphinpflaster verordnet, die auch in der Kurzzeitpflege nie abgesetzt wurden.

Sie fühlte sich im Heim überhaupt nicht wohl. Viele der Senioren saßen nur da, starrten vor sich hin und was Mimi besonders störte, es hing ein Tropfen an der Nase. "Neeeeee so will ich mal nicht werden" war ihr unverwechselbar frecher Kommentar dazu. Wenige Wochen später war es allerdings so.  Ich besuchte sie jeden Nachmittag, so wie auch schon im Krankenhaus. Und sie freute sich immer darauf. Jeden Tag musste ich ihr bestätigen, dass wir sie nach den vier Wochen wieder nach Hause holen, dass wir sie nicht "abgeschoben" haben.
In der Zeit des Aufenthaltes in der Kurzzeitpflege hatte sich der MDK zur Prüfung angesagt. Dort wurde vom Personal gesagt: „Ja, Frau Schmidt will ja gar nicht.“ Daraufhin wurde der Antrag auf Pflegestufe 2 abgelehnt. Es ist mir noch heute unverständlich, wie fremde Menschen innerhalb von wenigen Minuten so über das Leben und Befinden anderer urteilen können ohne sie zu kennen. Nach meinem Widerspruch und einer nochmaligen Prüfung in der Wohnung gab es Wochen später die Pflegestufe 2.

Nach diesen vier Wochen, für die ich mich immer noch bei Mutti entschuldigen möchte, wurde sie nach Hause entlassen. Sonntags. Ihr Mittagessen hatte sie erbrochen und wartete im Rollstuhl und in diesem vollgekleckerten Zustand auf den Krankentransport. Keiner fühlte sich mehr für Mutti zuständig. Einfach unverständlich!

Ich wartete inzwischen in ihrer Wohnung, um sie herein zu lassen. Sie erkannte ihre Wohnung nicht mehr wieder, hatten wir doch den Teppich entfernt, Stühle und Tische anders angeordnet  und das Sofa umgebaut. Sie wirkte sehr verwirrt. Deshalb kontrollierte ich ihren Blutzucker. 1,1 mmol/l … eine starke Unterzuckerung! Sie war nicht mehr in der Lage, Traubenzucker zu schlucken. Wir mussten sofort den Notarzt rufen.  Es folgten drei weitere Wochen im Krankenhaus und noch ein Herzinfarkt. Sie wollte nur noch heim und wurde zum Sterben nach Hause entlassen, man konnte nichts mehr für sie tun. Das war im April.

Ich übernahm die häusliche Pflege und war froh, in dieser Zeit arbeitslos zu sein. Eine Unterbringung in einem Heim kam für mich überhaupt nicht in Frage. Das hatte ich Mutti schon vor vielen Jahren versprochen. Und nach der Erfahrung mit der Kurzzeitpflege erst recht nicht ... Bei der AOK bewarb ich mich um eine Pflegeschulung, im Jahre 2009 wurde ich diesbezüglich angerufen. Leider viel zu spät. So versuchte ich mich zu belesen, um ihr die bestmöglichste Pflege zu bieten.

Dana, die selbst in der mobilen Altenpflege arbeitet, Michael als ehemaliger Zivi, die Hausärztin, die Diabetologin und der Pflegedienst unterstützten mich sehr. Ich danke allen herzlich dafür.

Vom Pflegedienst wurde sie 7 Uhr geweckt, die Morgentoilette absolviert und mit Frühstück versorgt. Ich war dann von 9 Uhr bis 18 Uhr für meine Mimi da. 19 Uhr kam wieder der Pflegedienst und 21 Uhr wurde sie von meiner Tochter zu Bett gebracht. Nachts war sie allein. Anfangs saß sie tagsüber im Rollstuhl, später dann kam sie aus dem Pflegebett nicht mehr heraus. Geistig war sie mit leichten Einschränkungen noch "auf der Höhe" und merkte sehr wohl, was mit ihr geschah. Und es war für sie sehr schlimm, dass wir sie windeln mussten. Wie oft hatte sie sich ausgepackt und das Bett verunreinigt, weil sie allein gar nicht bis zur Toilette kam. Täglich fiel ein Wäscheberg an, den ich nachts bei mir zu Hause wusch.

In ihren Träumen lebte sie nun in ihrer Jugendzeit und mit ihrer Liebe zu Vati. Es muss die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen sein, trotz Krieg und vieler Entbehrungen. Am 13. Februar 1945 wurde die neu eingerichtete Wohnung beim Bombenangriff auf Dresden völlig zerstört. Mein Vati lag lange Zeit im Lazarett, war er noch am 30. April 1945 bei der "kampflosen" Übergabe der Festung Berlin-Spandau von einer russischen Eierhandhandgranate schwerst kriegsbeschädigt worden. All' das erlebte sie in nun von neuem.

Im Mai stellten wir eine schwarze Stelle am Fuß fest. Die Ärztin verordnete Antibiotika, die Mimi aber sehr oft verweigerte. Und dann gab es wieder einen Schub. Mit meiner Fotodokumentation war ich Stammgast bei den Ärzten, die aber nur mit den Schultern zuckten und nicht helfen konnten. Sie verordneten Salben und Verbandsmaterial. Den Verbandwechsel machte ich täglich allein. Ein Antrag auf eine Wundschwester wurde abgelehnt: "brauchen wir nicht". Die Wohnung stank nach Verwesung. Am Ende war der ganze Fuß schwarz

Ich weiß, wir hätten inzwischen die Pflegestufe 3 beantragen können, aber ich wars leid mit dem MDK zu kämpfen.

Gut, dass es Sommer war und die Balkontür den ganzen Tag geöffnet werden konnte. Mimi freute sich über die Schmetterlinge, die herein geflattert kamen und sich auf ihre Bettdecke setzten. Ein Kätzchen aus der Nachbarschaft kam regelmäßig zu Besuch, dabei hatte Mimi es nie gefüttert oder sich mit ihm beschäftigt. Wenn das Kätzchen sah, dass ich da war, lief es weiter. War ich grad nicht zu sehen, wartete es, bis ich wieder da war. Vom Pflegebett, das nun an Stelle vom Sofa stand, konnte Mutti in den Garten auf die vielen schönen Rosen schauen. Wir konnten ihr eine große Freude mit Eis machen. Das schleckerte sie doch so gern.
Sie schlief fast rund um die Uhr und träumte nun von ihrer Kindheit.

Anfang August, an einem Sonntag,  als ich am Morgen zu ihr kam, sagte sie, ich solle sofort alle anrufen, sie möchte sich verabschieden. Sie telefonierte lange mit ihrer jüngeren Schwester. Inzwischen waren auch meine Kinder da. Sie nahm alle lieb in die Arme. Dann  schloss sie die Augen und holte einfach keine Luft mehr. Nach einigen Minuten der Stille musste sie jedoch wieder ganz tief einatmen. Jedesmal mit einem tiefen Säufzer, dass es uns kalt den Rücken hinunter lief. So ging das den ganzen Nachmittag. Der Körper war noch nicht bereit zum Sterben. Wir waren so hilflos, riefen bei einem Bereitschaftsarzt an und schilderten alles. Er kam. Er nahm die Hand von Mutti und redete leise auf sie ein. Plötzlich strahlte sie ihn glücklich an und alles war wieder gut.

Dann kam der 15. September. Sie hatte Namenstag. Auf diesen Tag hatte sie immer großen Wert gelegt. Ich kam mit einem großen Rosenstrauß. Rosen liebte sie so. Sie strahlte mich an „ich hab heute Namenstag“. Daran konnte sie sich sofort erinnern. Meine Kinder kamen auch und wir stellten die Rosensträuße so auf, dass Mimi sie sehen konnte. Rund ums Bett - ein Rosenmeer. Sie war so glücklich an diesem Tag. Wir machten eine kleine Feier. Ich hatte für sie extra-kleine Häppchen gemacht, konnte sie doch schon längst keine größeren Schnittchen oder Mahlzeiten, nur noch Brei in allen Varianten,  zu sich nehmen. Mit großem Appetit futterte sie. Es war so schön. Ich denke, sie hatte sämtliche Lebensenergie nur noch für diesen einen Tag aufgehoben.

Am nächsten Tag sollte das alles zu Ende sein. Sie lag apathisch im Bett, schrie um Hilfe, wenn sie gewindelt wurde, schlug, kratzte und biss nach allen. Geistig bekam sie von nun an nichts mehr mit. Zu Unrecht war ich manchmal etwas ungehalten. Mimi, entschuldige bitte.

Manchmal sah sie mich lieb an und sagte „Maminka“ ... und sprach tschechisch. Tschechisch hatte sie damals in ihrer Kindergartenzeit gesprochen. Nie zuvor hatte ich Mimi tschechisch sprechen hören.

Und wir mussten so hilflos beim langsamen Sterben zusehen, zusehen wie sich der Körper Stück für Stück verabschiedete. Nach und nach verweigerten die Organe ihren Dienst. Wir wollten so gerne helfen und konnten es doch nicht. Die Medizin nahm sie schon längst nicht mehr, sie bekam nur noch starke Morphinpflaster, um keine Schmerzen zu haben. Inzwischen hatte sie vergessen, wie man trinkt, kaut, schluckt. Da war einfach nur noch ein Reflex. Schluckweise konnte ich ihr dünnen Grießbrei, mit viel Soße verdünnten Kartoffelbrei, selbstgekochte Hühnerbrühe, Joghurt, Apfelmus und Tee einflößen. Unser Hausrezept Rotwein verquirlt mit Eigelb nahm sie aber noch gerne an. Dann kam kurz ein Leuchten in ihren Augen auf. Ich war den  ganzen Tag mit Füttern beschäftigt. Die Mädel vom Pflegedienst machten freiwillig Überstunden, um uns zu helfen. Danke!

Ich trank Unmengen von Red Bull, um wach zu bleiben.

Ab Mitte September erkannte sie niemanden mehr, starrte nur noch an die Decke. Nahrung, Getränke  und Medizin lehnte sie inzwischen völlig ab. So blieb ich auch nachts bei ihr. Ich schlief auf einer Luftmatratze, um immer bei ihr zu sein. Nur in der Nacht vom 26. zum 27. September fuhr ich heim zum Schlafen, weil ich nervlich ziemlich am Ende war. Ich dachte, sie wird warten, bis ich wieder da bin ...

Als ich am Morgen des 27. September zu ihr kam, hatte der Pflegedienst schon die Ärztin verständigt, die den Tod bestätigte. Ich war in ihren letzten Stunden nicht bei ihr. Sie hat abgewartet, bis sie alleine war und ist dann ganz still von uns gegangen.

Die Trauerfeier fand am 15. Oktober – ihrem 87. Geburtstag – statt. Mit 87 Baccararosen und ihrer Lieblingsmusik „Der goldene Pavillon“ von Hans Hendrik Wehding und „Letzte Rose“ aus der Oper „Martha“ von Flotow, gespielt von André Rieu, verabschiedeten wir uns von ihr. 

 

Im Herzen wird sie immer bei uns sein.
 

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